Der Eintritt in einen neuen Seinszustand. Substantiv zu „gebären“, welches auf die indogermanische Wurzel bher = „tragen, bringen“ zurückzuführen ist (vgl. engl. „to bear“ = er-tragen, hervorbringen); also: „austragen, zu Ende tragen“. Auch die Bahre ist auf diesen Ursprung zurückzuführen.
Die Geburt eines Menschen könnte man fast als Metamorphose bezeichnen, denn mit dem ersten Atemzug (bzw. dem ersten Schrei) stellt sich vieles im Körper des Neugeborenen komplett um: Der Sauerstoff wird nun nicht mehr über das Nabelschnurblut zugeführt, sondern direkt über die Lungen, die sich nun entfalten und erstmals ihre Funktion aufnehmen. Gleichzeitig verschließt sich eine Shuntverbindung zwischen linker und rechter Herzkammer, wodurch sich das Kreislaufsystem differenziert: Es entstehen kleiner und großer Kreislauf. Die Aufnahme der Nährstoffe erfolgt künftig nicht mehr über die Nabelschnur, sondern über den Magen-Darm-Trakt, wobei die Magensäure erst produziert werden muss und der Darm erst von Bakterien besiedelt werden muss. Das Gefühl von Hunger wird eine neue Erfahrung darstellen. Nicht nur der Lebensraum ändert sich also plötzlich (Unterscheidung von warm und kalt, nass und trocken, hell und dunkel etc.), sondern auch der eigene Körper.
Unter palliativpsychologischem Blickwinkel sind folgende Aspekte interessant:
Der Zeitpunkt der Geburt wird wesentlich vom Kind bzw. dessen Körpersignalen bestimmt. Es gibt also einen Zeitpunkt bzw. einen Zeitraum, an dem der Körper für das Verlassen des bisherigen Lebensraumes bereit ist.
Ebenso wie die Geburt ist auch der Sterbevorgang ein sehr körperlicher. Insbesondere die körperlichen Ausscheidungen wie Urin, Kot und Schleim können Abwehrreaktionen hervorrufen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit sollte daher Bestandteil jeder Palliativ-Care-Ausbildung sein.
In Hinblick auf das Geburtsgeschehen als Metamorphose verwundert es nicht, dass Menschen tiefgreifende Erlebnisse, die zu einer Änderung ihres Bewusstseins führen, als „Wiedergeburt“ oder als „zweite Geburt“ bezeichnen.
Für Eckhart Tolle ist das Gegenteil von „Tod“ nicht „Leben“, sondern die „Geburt“: Geburt und Tod bezeichnen zwei Zeitpunkte – Anfangs- und Endpunkt – auf der (horizontalen) Zeitschiene. Das Leben hat nichts mit Zeit zu tun, es spielt sich sozusagen auf der Vertikalen ab, zeitlos, in jedem Augenblick.
Der Hirnforscher Gerald Hüther betont, dass unser Gehirn von Geburt an (und bereits schon vorher) optimal sowohl für die Anforderungen einer komplexen Umwelt als auch für die komplexen Vorgänge innerhalb des Körpers ausgestattet ist. Er plädiert dafür, diese natürliche Intelligenz nicht ständig durch das Denken zu stören.
Die Haltung, die Fédérik Leboyer mit der „Geburt ohne Gewalt“ beschrieben hat, gleicht der Haltung bei der Begleitung von Sterbenden: Sie ist geprägt von Stille, Demut, Ehrfurcht, Mitgefühl, in-sich-selbst-horchen, Behutsamkeit, Liebe.
Dies wird deutlich, wenn wir in den Texten von Leboyer einfach die Begriffe „das Kind“ erstzen durch „der Sterbende“, „kommen“ durch „gehen“, „neues Wesen“ durch „sterbendes Wesen“:
Wir überlegen, wie wir den Sterbenden vorbereiten können.
Mit feinen Elektroden?
Wir sind ratlos.
Nicht den Sterbenden müssen wir vorbereiten,
Uns selbst.
Die eigenen Augen müssen wir öffnen.
Die eigene Blindheit muss aufhören.
Mit ein wenig Verständnis ist alles so einfach.
Lasst uns einmal Schritt für Schritt anschauen,
was wir tun können,
um dem Sterbenden, der aus unserer Mitte geht,
die Angst zu nehmen.
(… )
Nun das Hören.
Was könnte einfacher sein.
Wir brauchen nur zu schweigen und still zu sein.
Einfach?
Auch das ist schwieriger als es aussieht.
Wir sind dermaßen geschwätzig.
Hinzu kommt, dass es so aufwühlend sein kann,
gemeinsam mit einem anderen Menschen zu schweigen,
dass es uns Überwindung kostet, es zu wagen.
Schweigen bedeutet, sich dem anderen zu öffnen,
zu hören und aufzunehmen, was jenseits von Worten liegt.
Dies erfordert Kraft und Anstrengung.
Wir müssen darauf vorbereitet sein. Wir müssen es üben.
Und müssen begreifen, warum es geschieht.
Wir fragen weiter:
Welches geheimnisvolle Etwas hindert uns daran, dies sterbende Wesen in seiner Wirklichkeit zu sehen und zu erkennen?
Dieses Etwas sind wir selbst. Unser kleines Ich, unser Ego, dieses nebelhafte Gebilde, das sich aus unseren Wünschen, unseren Leidenschaften und vor allem unseren Ängsten zusammensetzt.
(…)
(nach Leboyer: „Geburt ohne Gewalt“, Kösel 1981)